Winsen, am Montag den 18.08.2025

Pinkeln mit der grünen Steffi

von Carlo Eggeling am 15.04.2023


Meine Woche
Pinkeln mit Steffi

Ich weiß nicht mehr genau, wann es war, aber es war in Harlingen kurz vor Hitzacker. Der Castor-Zug sollte bis Dannenberg rollen, hoch oben auf dem Bahndamm saßen Hunderte Kernkraftgegner und stoppten den strahlenden Müll auf seinem Weg ins Zwischenlager Gorleben. Polizisten schleppten die Demonstranten auf eine Wiese, um den Weg freizumachen. Das dauerte. Ich musste pinkeln, als ich mich aus dem Gebüsch schlug, stand ich ein paar Meter neben Steffi Lemke, damals Geschäftsführerin der Grünen, heute Bundesumweltministerin und zuständig für Reaktorsicherheit. Klar, machte sie -- so wie heute -- damals Front gegen die Atomkraft. Pinkeln mit Steffi.

Das waren spannende Zeiten, als zumeist einmal im Jahr der Atommüll ins Wendland tuckerte. Gefühlt zählte man mehr Polizisten als Bäume im eher einsamen Landstrich. Auf der anderen Seite mal mehr mal weniger Protestierer, je nach Stimmung, die gerade in Sachen Atomstrom herrschte.

Vermutlich ist das jetzt nicht dem Ernst der Lage geschuldet: Mir tut's ein bisschen leid, dass uns seit 2011 keine Transporte mehr bewegen. Es war immer wie ein Klassentreffen. Esso-Wiese in Dannenberg mit Volksküche, einem durchgeknallten Radiosender, der live über die Szene berichtete, Blockaden in Göhrde, Trecker kesselten Räumfahrzeuge der Polizei ein, Deeskalationskonzepte in Uniform, die dann an martialischen "Bullen" aus Magdeburg schlagstocküberzeugend endeten -- auch für Journalisten, witziger Widerstand in den Dörfern und einer Menge Party auf Bühnen. Demnächst zum Erinnern noch ein bisschen Kulturelle Landpartie.

Natürlich geht es heute um Großes, wenn die letzten drei Atomkraftwerke im Land abgeschaltet werden. Übrigens eine Entscheidung, die nach Fukushima auf CDU-Kanzlerin Angela Merkel zurückgeht, einige ihrer Parteifeinde verschweigen das geflissentlich. Nach der Reaktorkatastrophe in Japan fand die Mehrheit zwischen Ostsee und Alpen den Ausstieg völlig richtig. Nun ist eine Mehrheit kritisch, wo der Strom herkommen soll. Zumal wir künftig nicht nur mit E-Bikes, sondern in Masse auch mit E-Autos durch den Gegend stromern sollen und wollen.

So richtig es ist, auf andere Energie zu setzen, ein wenig stutzen kann man schon, wenn uns der grüne Minister Habeck erzählt, dass Kernkraftwerke in der Ukraine ok sind, unsere aber nicht, obwohl die deutlich sicherer sein dürften. Was soll's. Italien ist ein Vorbild: Die Europa-Kollegen haben sich nach Tschernobyl, da flog 1986 ein Reaktor in die Luft, aus der Atomenergie verabschiedet. Heuer importieren sie Strom von den Nachbarn Schweiz, Frankreich und Slowenien, Länder, die Kernkraftwerke am Netz haben. Na ja, irgendwas ist immer. Und nachdem wir wieder mehr auf Gas aus dem US-Fracking und Kohle vertrauen und sie verbrennen, muss uns nicht bange werden. Läuft. Ob Steffi Lemke mal wieder ins Wendland kommt, um sich die "Kartoffelscheune" die 113 Castoren anzugucken, in denen ein tödliches Erbe liegt? Ob sie eine Idee hat, wo der atomare Dreck bleibt? Das Thema strahlt noch lange.

Das Projekt Zukunftsstadt dämmert seinem Ende entgegen. Man ist selbst sehr angetan von sich, habe ich gelesen. Ganz viele Arbeitskreise, ganz viele Gesprächsrunden. Scheint, als wenn sich da zumeist dieselben Menschen getroffen haben. Was schön ist, was gibt es Besseres, als zu reden mit denen, die einer Meinung sind? 1,5 Millionen Euro Zuschuss flossen Stadt und Uni. Auf der eigenen Internetseite ist zu lesen, dass man mehr als zehn Stellen schaffen konnte. Das ist auf jeden Fall ein Erfolg, für die Betroffenen.

Mein Lieblingsprojekt war der Marienplatz als Lieblingsplatz. Was für eine Zukunft! Holzhackschnitzel vereint mit verrosteter Klangschale, ein paar Tafeln mit Lebensweisheiten. Dazu zeitweilig ein innenstadtnaher Zeltplatz für ein Klimacamp mit Plastikzelten samt Tetrapaks mit Hafermilch Schon aus ästhetischen Gründen war man froh, als es wieder ein Parkplatz wurde.

Profitiert haben dürften obendrein die, die alle paar Wochen eine Seite mit verkopften Texten in sensibler Sprache als Werbung abdrucken durften. Immerhin, habe ich heute gelesen, einige Arbeitskreise bestehen weiter. Man hat noch viel zu bereden. Das bleibt nachhaltig. Ich kenne ein paar Leute, die mit eineinhalb Millionen Euro eine Menge Bleibendes auf die Beine gestellt hätten. Na ja, was soll's? Es wird seinen Sinn haben.

Denken wir an den tragischen Moralisten in Erich Kästners Roman Fabian: "Entweder lebt man oder man ist konsequent." Ich wünsche ein charmantes Wochenende. Carlo Eggeling

© Fotos: ca


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Kommentar von Jochen
am 15.04.2023 um 17:15:38 Uhr
Auf den Punkt gebracht


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